In Sichtweite der Christuskirche kommt es zu einer Namensänderung. Aus einem Teilstück der Blücherstraße wird die Hilde-Sherman-Zander-Straße. So beschloss es der Rat der Stadt Mönchengladbach. Damit ehrt die Stadt das Andenken an eine Holocaust-Überlebende. Ein wesentliches Argument für die Umbenennung: gegenüber der heutigen Zentralbibliothek stand die jüdische Synagoge.
Hilde Sherman-Zander wurde im Dezember 1941 vom Schlacht- und Viehhof Düsseldorf im Düsseldorfer Stadtteil Derendorf in einem Eisenbahntransport nach Lettland in das Ghetto Riga verschleppt. Sie überlebte als Einzige ihrer Familie den Holocaust und wanderte im November 1945 nach Kolumbien aus. Dort veröffentlichte sie 1982 ihre Erinnerungen. Die deutsche Version „Zwischen Tag und Dunkel. Mädchenjahre im Ghetto“ erschien im Ullstein-Verlag.
Hilde Sherman-Zander? Da war doch was? Ja, da war sogar sehr viel. Als meine Frau und ich vor 33 Jahren nach Mönchengladbach kamen, begegnete ich ihr. Und zwar mit meinem ersten Konfirmandenkurs, den ich übernommen hatte und zur Einsegnung im folgenden Mai führen sollte. Es war zwar eine indirekte Begegnung, aber sie hatte große Wirkung. Mit den Konfirmandinnen und Konfirmanden hatte ich nämlich Sherman-Zanders Buch gelesen und besprochen. Helga Stöver, die enge Freundin aus der alten Gladbacher Heimat, heute Namensgeberin eines Hauses der Diakonie, hatte mit den jungen Leuten im Stuhlkreis gesessen, erzählt und Fotos gezeigt. Und dann schrieben die Konfirmanden einen Brief nach Bogotá. Er endete mit den Worten: „Wir möchten Ihnen zeigen, wie sehr uns Ihr Schicksal betroffen gemacht hat.“
Das habe ich jetzt alles noch mal nachgelesen, nachdem ich den Ordner mit den alten WIR-Ausgaben rausgekramt hatte und im Mai-Heft 1992 fündig geworden war. Die Pointe hatte ich fast vergessen. Als ich nach Wochen mit einem Luftpostbrief aus Kolumbien in den Unterricht kam, war die Freude groß. Denn Frau Sherman hatte geantwortet. „Herzlichen Dank für Eure lieben, verständnisvollen Worte“, stand da gleich am Anfang, und die Verfasserin fuhr fort: „Sie haben mir gezeigt, dass Ihr wach und wachsam seid, damit diese grauenhaften Geschehnisse sich niemals wiederholen können. Das bestätigt mir wieder die Tatsache, daß die neue Jugend aufgeschlossen und kritisch den Ereignissen gegenübersteht.“ Und mir selber schrieb sie noch: „Ich danke Gott jeden Morgen beim Aufwachen, weil ich keinerlei Haß- und Rachegefühle kenne, was eine Gnade ist.“
Nachfrage bei Markus Vomweg. Mit ihm wie mit der Mehrheit meines ersten Konfirmandenkurses sind meine Frau und ich noch immer in Verbindung. Meine Frau taufte im letzten Jahr die beiden Söhne des ehemaligen Konfirmanden. Ich wollte wissen: Erinnerst du dich noch an die Aktion im Konfirmandenunterricht? Wie fandest du das? Und wie denkst du darüber, dass heute die Straße an der ehemaligen Synagoge den Namen von Hilde Sherman-Zander trägt?
Konkrete Erinnerungen an den von der Konfirmandengruppe verfassten Brief habe er nach den 33 Jahren leider nicht mehr, lautete die Rückmeldung. Markus Vomweg fährt fort: „Allerdings kann ich mich noch an die offenen Diskussionen zu einer sehr vielfältigen Themenauswahl in Deinem Unterricht erinnern. Es überrascht mich daher nicht, dass wir uns auch mit dem ernsten Thema der Judenverfolgung in der NS-Zeit befasst haben.“ Und es folgen nachdenkliche Zeilen. „Damals waren mir die tatsächlichen Dimensionen dieser Verbrechen vermutlich nur im Ansatz gewahr. Im weiteren Verlauf des Lebens habe ich mich dann immer wieder und sehr eingehend mit dieser Zeit befasst.“ Das Fazit: „Frau Shermann-Zanders Wunsch, offen für Erfahrungen und andere Menschen zu sein, ist in diesem Sinne vielleicht ein wenig in Erfüllung gegangen. Die Umbenennung des Straßennamens ist jedenfalls eine schöne Nachricht.“
Eine andere Rückmeldung kam aus der Nähe von Hamburg. Bei Katrin Krüger, die damals noch Katrin Wenzel hieß, hatte meine Anfrage konkrete Folgen: „Tatsächlich habe ich sofort nach dem Lesen Deiner Mail das Buch aus unserem Bücherregal im Wohnzimmer genommen und meiner Familie davon erzählt. Erinnerungen. Gedanken. Fassungslosigkeit. Bewunderung. Staunen. Hoffnung. So vieles findet auf einmal Raum, wenn man an Hilde Sherman-Zander und ihre Geschichte denkt.“ Und Katrin Krüger, die nach ihrer Konfirmation mit vielen anderen Jugendlichen im Kindergottesdiensthelferkreis war und sich noch heute ehrenamtlich in ihrer norddeutschen Kirchengemeinde engagiert, meint, dass wir nach mehr als dreißig Jahren nur bedingt weiter seien: „Die Zeiten ändern sich, ständig und in vielerlei Hinsicht, aber das mit dem Anderssein, den Minderheiten, der Toleranz, dem Miteinander klappt an vielen Stellen bis heute nicht. Das ist traurig. Enttäuschend. Bisweilen beschämend. Brutal. Gemein. Unter Umständen vernichtend.“ Und so begrüßt die ehemalige Konfirmandin die Straßennamensänderung ausdrücklich. Ihr Appell: „Wir müssen immer – im Großen und im Kleinen – reflektiert bleiben und Erfahrungen – auch anderer – ein Stück weit emotional an uns heranlassen. Nur so haben wir die Chance, ein Aufeinander-zu statt eines Gegeneinanders zu bewirken und statt Macht auszuleben ein Miteinander zu erreichen – oder zumindest jedem den eigenen Raum zu lassen ohne Wertung, Verurteilung, Ausgrenzung.“
Werner Beuschel