Gelebtes Glaubensbekenntnis

Der himmlischste Ort in ganz Deutschland war wohl in diesem Jahr 2022 Oberammergau mit seinem alle zehn Jahre wiederkehrenden Passionsspiel – dieses Mal hat es aus Pandemie- Gründen sogar zwölf Jahre gedauert, ehe das „Spiel vom Leiden, Sterben und der Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus“ wieder aufgeführt werden konnte. Hundert Aufführungen lockten in eine halbe Million Menschen aus aller Welt in das kleine, idyllische Dorf  in Bayern – auch die Autorin.

 Die Atmosphäre ist eindrucksvoll: Das ganze 5500- Seelen- Dorf Oberammergau ist vollständig in das Passionsspiel einbezogen. Alte und junge Männer mit langen, wallenden Haaren und rauschenden Bärten laufen geschäftig zwischen Wohnhaus und Passionstheater hin und her, Frauen und Kinder im grau-beigem bodenlangen Gewand verlassen die Geschäfte und Häuser, um ihren Auftritt  als „Volk“ nicht zu verpassen. Der ganze Ort steht Kopf, wenn das Passionsspiel den Takt des Tages vorgibt.

„Eingedenk des Gelübdes und getreu dem Verspruch unserer Vorfahren, führt Oberammergau im Jahre 2022 das Passionsspiel auf.“ Mit diesen Worten erneuerten die Bürgerinnen und Bürger Oberammergaus  das Versprechen zur Aufführung der Passion. Es hat  seinen Ursprung im Jahre 1633, als die Pest wütete. Oberammergau blieb lange verschont; aber dann brachte 1632 ein armer Tagelöhner, der seit 2 Jahren in der Ferne gearbeitet hatte, die Pest in das Dorf, weil er seine Familie sehen wollte.  Bis Ende 1633 starben von den 800 Einwohnern Oberammergaus 84 Erwachsene und eine ungezählte Anzahl Kinder. Noch in demselben Jahr gelobten die Dorfvertreter  auf dem Friedhof des Ortes, alle zehn Jahre ein Passionsspiel aufzuführen, in der Hoffnung, dass der Ort von der Pest befreit würde. Laut Überlieferung gab es von diesem Zeitpunkt an keinen Pesttoten mehr.

Trotz aller Widrigkeiten blieben die Oberammergauer über die Jahrhunderte ihrem Gelübde treu. Seit 2014 gehören die Passionsspiele zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO. Doch Oberammergau ist weit mehr als kulturelle Tradition- es ist gelebtes Glaubensbekenntnis und Vorbild für den Glauben mit einem großen Maß an Authentizität.                                                                 

Nicht nur die Darsteller und Schauspieler stammen aus Oberammergau, auch die über 100 Chormitglieder und 55 Orchesterteilnehmer sind aus der Region. Hunderte von Kostümen werden in der eigenen Schneiderei gefertigt und die verschiedenen Bühnenbilder selbst gezimmert und angemalt. Die mitwirkenden Ziegen, Schafe, Pferde  und Tauben sind einheimisch, lediglich die beiden Kamele sind aus einem Zoo  in der Nähe ausgeliehen. Und dann der Haar- und Barterlass!  Seit Aschermittwoch des Vorjahres lassen die Schauspieler ihre Haare und Bärte wachsen. Mit den Haaren und den Bärten wächst auch die Aufregung und das Gemeinschaftsgefühl Oberammergaus. Kein Zweifel: die „Passion“ ist Leidenschaft.                                                                                                         

Regisseur Christian Stückl, der zum vierten Mal die Passionsspiele inszeniert, hat das Stück von belastenden Traditionen befreit und mit vielen Gewohnheiten  aufgeräumt. Er verbannte die antijudaistischen Passagen aus dem Stück. Ebenso wurde das Mitwirkungsrecht der Frauen sowie der muslimischen Einwohner Oberammergaus beschlossen. 1990 sorgte der erste evangelische Jesus-Darsteller für Aufsehen und Empörung.

Das Passionsspiel beginnt mit den atemberaubenden Klängen des Orchesters und dem Aufzug des Chores, der die fortlaufende Handlung der Passion Christi musikalisch erzählt.  Die lebendigen Standbilder, die an geeigneten Stellen dem Zuschauer frei gegeben werden,  zeigen Szenen aus dem Alten Testament. Jesus, Kaiphas, Herodes, Pilatus und die Römer treten in Streitgesprächen auf, während die Frauen Maria und Magdalena  mit klagendem Gesang ihrem Leid Ausdruck verleihen. Beeindruckend ist immer wieder, wenn das Volk die Bühne betritt. Etwa 1000 Menschen stehen dann in ihren bodenlagen Gewändern gleichzeitig auf der Bühne und rebellieren tumultartig gegen die Obrigkeiten. Die römischen Soldaten lassen das gewaltige Stimmengewirr aber immer wieder schlagartig verstummen, wenn sie das Volk mit Pferden und  Schlagstöcken in Schach halten.

Es entsteht eine faszinierende  Atmosphäre mit dramatischen Momenten, wenn die Kreuzigungs- Szene beginnt. Der Himmel über dem Theater hat sich schon verdunkelt, die Nacht ist hereingebrochen, das Feuer der Fackeln knistert und die kleinsten Darsteller sind in den Armen ihrer Mütter längst eingeschlafen. In dieser Totenstille werden drei Kreuze aufgebaut und der blutüberströmte Jesus mit der Dornenkrone und seine Mitverurteilten auf die Bühne getrieben. „Kreuzigt sie! Kreuzigt sie!“, wütet das Volk.

Dieser Höhepunkt zieht die Besucher  emotional vollkommen in seinen Bann. Das Leiden der Gekreuzigten, das Klagen der Frauen, das Geschrei des Volkes, die wilden brutalen Soldaten – dies gleicht einem Spektakel, verdeckt aber nicht den tiefreligiösen Ursprung des Leidens und des Todes Jesu Christi. Aufgehoben wird  das schreckliche Geschehen von der Auferstehung, die die Hoffnung zurückbringt. Das Oberammergauer Passionsspiel ist ein Ereignis, das den Zuschauer verändert in die Gegenwart entlässt.

Gabriela Ferfers-Weitz

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