Wer nur den lieben Gott läßt walten …

Befiel du deine Wege / und was dein Herze kränkt / der allertreuesten Pflege / des, der den Himmel lenkt. / Der Wolken, Luft und Winden / gibt Wege, Lauf und Bahn, / der wird auch Wege finden, / da dein Fuß gehen kann.

(Paul Gerhardt, kurz nach dem 30jährigen Krieg, der Deutschland über 30% seiner Bevölkerung gekostet hat) 

Acht Wochen hat unser Gemeindeleben mehr oder weniger stillgestanden. Acht lange Wochen fanden keine Gruppen und Vorträge, kein Konfirmandenunterricht und auch keine Gottesdienste statt. Das hat es in der Geschichte des Christentums noch nie, weder zur Zeit der Christenverfolgungen in der Antike noch zur Zeit der Pest oder der vielen Kriege gegeben! Ich bin versucht, die bekannten Worte Goethes zu benutzen, die er angesichts der Kanonade von Valmy in einem Krieg europäischer Monarchien gegen das revolutionäre Frankreich zu deutschen Offizieren gesagt hat: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“

Manche Staatsmänner nahmen angesichts der „Coronakrise“ anfangs das Wort „Krieg“ in den Mund und viele andere haben sich so gefühlt: Als ob da etwas Brutales auf uns zukommt, das unendliches Leid und Zerstörung mit sich bringt. Das unser ganzes bisheriges Leben über den Haufen wirft. Mir gefällt die Kriegsmetapher nicht. Es gibt keinen sichtbaren Feind, uns fallen keine Bomben auf den Kopf und niemand steht im Feld an einer „Front“, die diesen Namen wirklich verdient. Auch wenn viele Menschen in Medizin und Pflege bis an den Rand der Erschöpfung geschuftet haben und es immer noch tun. Sie verdienen Respekt, bleibenden (und nicht bald in Vergessenheit geratenen) Respekt (wie jeder Mensch, der seine Pflicht und angesichts einer besonderen Lage mehr als diese tut), aber gleich von „Heldentum“ zu sprechen und ganze Berufsgruppen darunter einzuordnen, ist meines Erachtens ein wenig sehr hoch gegriffen. Überhaupt hätten ein wenig mehr Sachlichkeit, ein nüchternerer Sprachgebrauch in den Medien die Stimmung im Lande nicht so angeheizt, wie sie an manchen Tagen gewesen ist. Zugleich ist klar: Es gab Tote. Zu viele. Viel zu viele. Und es wird sie weiterhin geben. Das ist bitter, das tut weh, aber es ist kein Krieg und unsere Lebensverhältnisse sind im Großen und Ganzen geordnet.

Ehrlich: Als die Einschränkungen begannen, als es losging mit dem „Runterfahren“ (ein unschönes Wort, für das, was geschah. Aber bitte nicht „Lockdown“ oder gar „Shutdown“, das klingt nur modern; als ob es weniger technisch und dramatisch nicht auch deutsch und ein klein wenig verständlicher ginge: „Lockdown – mein Schulwörterbuch kennt das Wort nicht – bedeutet „Ausgangssperre“, shutdown zunächst das Ausschalten eines Computers, dann das Herunterfahren des öffentlichen Lebens, womit klar ist, wofür man uns hält…), als es also losging mit den Einschränkungen in unserem Leben, war ich sogar einigermaßen „froh“ darüber gewesen! Nicht über den Anlaß, schon gar nicht angesichts der Nachrichten aus Italien, Spanien und anderen Ländern, sondern eher über die vielen Termine, die ich nun nicht mehr wahrnehmen durfte, war ich doch das, was man gemeinhin „urlaubsreif“ nennt, nur stand dieser in weiter Ferne. Alles wurde ruhiger, „geruhsamer“, trotz der vermehrten Blicke auf meine Nachrichten-Apps, klar, der „Puls der Zeit“, aber so ging es wohl den meisten. Wir zogen uns zurück, überlegten, wie wir als Gemeinde leben können, wen wir telefonisch im Blick haben müssen, wie wir Hilfen organisieren können, wie es mit Gottesdiensten und Gruppen weitergehen wird. So viel gemailt und telefoniert wie in den letzten Wochen habe ich kaum in meinem Leben. Und: meine Abende waren frei – und das regelmäßig. So etwas hatte ich in diesem Umfang seit über 30 Jahren nicht mehr erlebt. Ich räumte viel aus und las noch mehr. Unendlich Liegengebliebenes wurde nach und nach aufgearbeitet. Wer ein Büchermensch ist, der konnte diesen Tagen durchaus etwas abgewinnen. Vor allem, wenn er sich nicht um Angehörige kümmern, wenn er nicht nörgelnde Kinder und Jugendliche um sein „Home-office“ (…) herumturnen hat, wenn er nicht depressiv ist oder sonst ein Leben führt, das er nur aushält, weil er kurzfristig mal aussteigen kann. „Verrückte Zeit“, dachte ich oft. Und war, was mich anbelangt, sehr dankbar und wurde es angesichts der Entwicklungen immer mehr.  

Wunderbar: Anrufe, nicht nur von Gemeindegliedern: „Du, was ist mit unserem Italiener? Den können wir nicht hängenlassen, denkt daran, dort Pizza zu bestellen!“ – Ein Friedhofsgärtner, dem ich anläßlich eines traurigen Anlasses begegnete, meinte: „Ich bin ja privilegiert, ich kann meinen Job nicht verlieren. Da holen wir 3,4mal in der Woche Essen von der Bude oder aus einem Restaurant. Die brauchen uns doch jetzt.“ Ehemalige Konfirmanden meldeten sich und fragten nach Menschen, die Einkaufshilfen benötigen. Alle möglichen Menschen riefen mich an und fragten, wie es so sei. Paradox war es: Ausgerechnet die verordnete Distanz ließ uns zusammenrücken! Das bisweilen grausame Virus ließ Gutes offenbar werden. Doch die sanft im Frühling wehende Romantik wurde immer öfter unterbrochen: „Wenn es nicht bis dann und dann losgeht, muß ich schließen.“ – „Papa muß seine Enkel sehen, Risikogruppe hin oder her, der will sonst nicht mehr leben.“ – „Wir stehen vor der Schließung. Ich weiß nicht, was aus meinem Job wird.“ – Da gab es neben der Stille- und Tiefblauer-Himmel-mit-Sternenzelt-Romantik plötzlich ganz handfeste Probleme! Und zwar ganz anderer Dimensionen, wie der, daß ich meine Konfirmanden und Gemeindeglieder (also Sie!) so langsam sehr zu vermissen begann. Da gab es plötzlich Menschen mit Angst, die mich anriefen. Und mit Grund zur Angst! Und ich konnte ihnen nicht wirklich helfen, denn ihre Gründe waren und sind real. Und ich geriet an die Grenzen meiner Möglichkeiten. Wieder einmal.

Was soll man als Pfarrer tun, wenn die Kirche plötzlich nicht mehr als „systemrelevant“ (auch so ein Modewort) eingestuft wird? Wenn man sich auf einer Stufe mit Volksfesten wiederfindet? Da hat man verinnerlicht, daß es beim Glauben um das Höchste und Tiefste des menschlichen Lebens geht und daß gemeinsame Formen von Frömmigkeit (wie zum Beispiel Gottesdienste) wesensmäßig dazugehören – und dann das: Da knipst das ach so „christliche Abendland“ die Lichter in seinen Kirchen aus! Meine ich, nicht unter einem übersteigerten Geltungsbedürfnis zu leiden, „komisch“ war es schon. Wir waren uns im Presbyterium sofort einig: Gesundheitsschutz geht unbedingt vor und wir wollen keine falschen Anreize setzen, damit möglicherweise gefährdete Personen sich durch ihren Gottesdienstbesuch einem erhöhten Risiko aussetzen. Wir waren mit die ersten in unserer Stadt, die ihren Gottesdienst abgesagt haben. Der unmittelbare Anstoß dazu kam sogar mitten aus unserer Gemeinde, von jemandem, der gut mit Zahlen umgehen kann und überdeutlich auf die wachsenden Risiken hinwies. Nun gab es also Andachten zum Mitnehmen auf einer Wäscheleine an unserer Kirchentür. Gerne gestehe ich, daß mir manchmal die ersten Tage wie ein „runtergeschalteter Ferienbetrieb“ vorkamen. Aber dann…

…dann kamen diese grundsätzlichen Fragen: Welche Bedeutung hat die Kirche in dieser Welt? Was hat das Christentum noch zu sagen in diesen Zeiten? Und ich stieß ausgerechnet auf die ungeheure Kraft uralter Worte von Menschen, die noch ganz andere Krisen überstanden und die ihren Halt im festen Gottvertrauen gefunden hatten. Und gelangte zu der Frage: Welche Rolle spielt das Gebet für uns? Trauen wir ihm noch etwas zu? Ist es mehr als Meditation? Besteht die „Kirche“ nicht bisweilen (!) gerade auch da, wo Menschen, dort wo sie gerade sind, füreinander die Hände falten und so ein unsichtbares Netz, das aus den Verheißungen Gottes lebt, über diese Erde breiten? Gibt es gar „geistige Mächte“, die wir mit Gebeten, diesem Ausdruck unbedingten Gottvertrauens, bewegen können uns zu helfen? Und bedeutet „Gottvertrauen“ nicht gerade dies: Auf ein „Mehr“ vom Himmel zu hoffen, auf ein „Mehr“, das uns hilft auszuhalten, zu warten, achtsam zu sein, nicht zu verzweifeln, vor Angst um andere nicht zu vergehen? Eine Frau sagte zu mir: „Ich bete für ihre Gemeinde“ – in dieser Situation war das alles, was menschenmöglich war. Das Scherflein der Witwe: ihre ganze Habe. Ja, ich habe in diesen Tagen der verordneten „Ohnmacht“ die Kraft des Gebets und der schlichten Bibellektüre, bei mir sind es die Psalmen, wiederentdeckt. Und ich spüre, ohne das ganz erklären zu können, daß beides mich verändert: Wir werden durchgeschüttelt, wir werden vieles verlieren, viele werden ganz ordentlich gerupft werden, wir müssen unseren Alltag neu sortieren, uns an gänzlich neue Umgangsformen gewöhnen – aber wir werden nicht untergehen! Wir kommen da raus! Und wir werden wieder unser Leben genießen können! Unter Abgründen ist ein Grund!

Halten wir durch, halten wir aus! Gott spricht auch durch sein Schweigen, lehrt uns die Schrift. Und er fragt uns, wie wir es mit dem Leben halten. Wir können diese Zeit mit ihren massiven Anfragen an unseren Lebensstil nutzen, um unser inneres Koordinatensystem neu zu justieren. Und dankbar zu werden für jedes noch so kleine, oft übersehene Glück. Und für alles, was uns hoffentlich mehr und mehr möglich wird. Wobei es nicht wie früher, sondern sehr „anders“ sein wird – obgleich ich mich an die vielen Mundschutzgesichter fast schon gewöhnt habe.

Seit dem 1.Mai sind in unserem Bundesland wieder Gottesdienste erlaubt. Mit zahlreichen Beschränkungen, gewiß, aber „es geht wieder los“. Wir müssen erst üben mit den gebotenen Einschränkungen umzugehen. Ich bitte Sie um Nachsicht mit uns. Nach achtwöchigem Liegen steht man nicht einfach wieder auf und macht weiter wie bisher. Alle wichtigen Informationen entnehmen Sie bitte unserem “Sonderausgabe des Gemeindebriefes” bzw. finden Sie hier auf unserer Homepage.

Ich habe in all dem komplexen Geschehen wie auch beim Durchdenken vieler Lebensgeschichten und dem Lesen der alten Worte aus ebenfalls schlimmen Zeiten neu erfahren: Gott verläßt die Seinen nicht! Er, nicht ein Virus hält die Welt in seiner Hand! Und fordert uns immer wieder auf, uns auf das Wesentliche zu besinnen und Vertrauen zu lernen. Nicht gegenüber einem oberflächlichen „Alles-wird-gut-Optimismus“, sondern in den Tiefenfasern unserer Seele ihm zu vertrauen und so jede Angst zu verlieren und besonnen und tatkräftig unser Leben zu führen und den großen vor uns liegenden Herausforderungen zu begegnen. – Dann hat die Macht des Bösen auch im Virus ausgespielt! Gottvertrauen ist ein hervorragendes Mittel gegen Ängste jeder Art und Kraftquelle für das, was das Leben von uns abverlangt.

Gott ist der Herr über Leben und Tod. Niemand sonst. In seiner Hand sind wir geborgen, im Leben wie im Tode. Er führe uns durch diese Zeit.

Bleiben oder werden Sie gesund,   

herzlich grüße ich Sie als

                     Ihr Pfarrer Karl – Heinz Bassy                

Wer nur den lieben Gott läßt walten / und hoffet auf ihn allezeit, / den wird er wunderbar erhalten / in aller Not und Traurigkeit. / Wer Gott, dem Allerhöchsten traut, / der hat auf keinen Sand gebaut.

Was helfen uns die schweren Sorgen, / was hilft uns unser Weh und Ach? / Was hilft es, daß wir alle Morgen / beseufzen unser Ungemach? / Wir machen unser Kreuz und Leid / nur größer durch die Traurigkeit.

Man halte nur ein wenig stille / und sei doch in sich selbst vergnügt, /wie unsres Gottes Gnadenwille, / wie sein Allwissenheit es fügt; / Gott, der sich uns hat auserwählt, / der weiß auch sehr wohl, was uns fehlt.

Sing, bet und geh auf Gottes Wegen, / verricht das Deine nur getreu / und trau des Himmels reichen Segen, / so wird er bei dir werden neu. / Denn welcher seine Zuversicht / auf Gott setzt, den verläßt er nicht.

(Georg Neumark, während des 30jährigen Krieges)

Bild: H. Harms © GemeindebriefDruckerei.de

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