Was für eine Zeit…! – Gedanken eines Stadtrandpfarrers in diesen Tagen

Es war am Mittwoch vor dem 4. Advent. Ich saß am Schreibtisch, draußen wechselten sich Sonnenschein und Wolken ab, naßkaltes und doch zu warmes Wetter. Nicht mal das wollte sich entscheiden. Wie unsere Kirchenleitung! Die hatte kurz zuvor die Losung ausgegeben, die Gemeinden sollten selber entscheiden, ob und wie sie ihre Weihnachtsgottesdienste durchführen würden. Im Grunde war das ja klug, denn nur vor Ort kann man wissen, was wie möglich ist. Aber zugleich hatte man damit den „Schwarzen Peter“ und würde den nicht „nach oben hin“ (dort, wo die Gehälter höher sind, weil sie einen Teil an Schmerzensgeld beinhalten) abgeben können. Dann kam die Nachricht vom „Chef“ (korrekt: Herrn Superintendent Denker, ein wirklich guter Mann am richtigen Ort), es im Grunde genauso zu halten und für den nächsten Tag eine Video-Konferenz mit den Vorsitzenden der Presbyterien und allen Pfarrerinnen und Pfarrern einzuberufen. Okay: Damit blieb der „Schwarze Peter“ also bei uns und richtete sich schon mal häuslich ein. Mit was sollte ich in die Konferenz gehen? Wir hatten bis dato die Zahl unserer Gottesdienste vermehrt (am 23. und 25.12. zusätzlich einen Abendgottesdienst, am 24. einen Morgengottesdienst zu den vier anderen), deren Länge gekürzt (der Finanzkirchmeister glaubt mir bis heute nicht, daß meine vorbereiteten Predigtmanuskripte um etwa die Hälfte kürzer waren als sonst!) und zwei Hepa-Filteranlagen dank großzügiger Spenden und eines tiefen Griffs in die Rücklagen bestellt. Unser Hygiene-Konzept war bereits lange zuvor auch ohne diese Filteranlagen genehmigt worden, aber wir wollten den Gottesdienstbesuch so „sicher“ wie möglich machen. Also: Alle Zeichen standen auf Weihnachten, die Gottesdiensttexte waren an jenem Mittwoch zu 60% auch fertig, Astrid Dichans hatte Sängerinnen und Sänger, ich selbst Musiker engagiert, da las ich morgens (vor dem Frühstück!) die Nachrichten: Die Zahl der Neuerkrankten und an Covid 19 Verstorbenen war deutlich angestiegen. Und zwar so deutlich, daß ich mir die Weihnachtsgottesdienste (trotz Anmeldung etc) nicht mehr vorstellen konnte und wollte. Ich schickte an die Mitglieder des Presbyteriums eine Brandmail: Was sollen wir tun? Nach und nach kamen die Antworten (ich bereitete immer noch die Gottesdienste vor, wobei ich zugleich hoffte, daß sich diese Arbeit dann doch als zwecklos erweisen würde, denn im nächsten Jahr würde man diese Gottesdienste so nicht mehr halten können): Für und Wider wurden erwogen, Pro und Contra abgewogen; viel telefoniert. Am Abend stand dann die Entscheidung fest: Mit überwiegender Mehrheit würden wir auf die Gottesdienste verzichten!

Die Nacht war kurz, drei, vier Stunden Schlaf. Die ersten Weihnachten, der erste Jahreswechsel in der Geschichte unserer Gemeinde, ja in der Geschichte der Kirche ohne Gottesdienste! Ja, die Entscheidung war richtig und fühlte sich einfach nur fies an! Am nächsten Morgen Video-Konferenz. Meine eigene innere Zerrissenheit spiegelte sich in den Voten der anderen: Presbyterien im Kirchenkreis, die so uneins waren wie meine Kollegen. Unsere Gemeinde war eine der ersten, die „zumachten“, was nicht bei allen (ja, wenn ich ehrlich bin: nicht einmal bei mir selber) gut ankam. Das sollte sich freilich später ändern; es dauerte keine Woche, da folgten uns die andern Gladbacher Gemeinden! Uns? Wohl weniger als den Zahlen und der Einsicht…

Alternativprogramme wurden aufgestellt. Es rächte sich, daß uns niemand eingefallen war, der einen Gottesdienst einigermaßen professionell „streamen“ konnte. Gott sei Dank wagte es Jana N., eine ehemalige Konfirmandin, mit ihrem Smartphone. Das Ergebnis befriedigte zwar nicht unbedingt alle meine ästhetischen Ansprüche, das lag aber eher an meiner Person und der beschränkten Technik als an Jana, die mutig mehr möglich machte, als möglich war.

Dann kamen die Gottesdienste am Freitag vor und am Sonntag, dem vierten Advent. Nachdem ich der Gemeinde die betrübliche Mitteilung überbracht hatte, sah ich in viele Augen, in denen Tränen standen. Die Stimmung war trotz des brausenden „Tochter-Zion, freue dich – Nachspiels“ (was kann unsere Organistin improvisieren!) gedrückt, meine Frau mußte ich lange im Arm halten (sie mich auch, was ich aber in dem Moment nicht zugeben wollte), uns allen war wohl „hundeelend“ zumute. Und immer wieder – uns es ging ein paar Tage so – hörten wir, wie richtig diese Entscheidung gewesen war, zumal bis zum Heiligen Abend viele bestellte und ausgegebene Anmeldekarten für die Gottesdienste aus Furcht vor Infektionen zurückgegeben worden waren. Ich fühlte mich wie beim Einschläfernlassen eines kranken treuen alten Hundes: Der Kopf sagt ja, das Herz blutet. Ehrlich: Ich halte mich in manchen Dingen für ausgesprochen kopfgesteuert, doch daß mir das Ausfallenlassen der Weihnachts- und Jahreswechselgottesdienste so nahegehen würde, hätte ich nie gedacht. Und nicht nur sie ließen meine Seele bluten: Vor etwa einem Jahr hatten wir den letzten Bibelkreis, den letzten Besuchsdienstkreis. Vor Monaten den letzten Konfirmandenunterricht. Wann habe ich die letzten Hausbesuche ganz unbefangen und auch spontan gemacht? Neulich ging ich durch unsere Gemeinde spazieren und hätte „heulen“ können: die vertrauten Wohnungen, deren Fenster erleuchtet waren, sie waren fernergerückt! Die Menschen, auch sie waren irgendwie weiter weg. Ein Telefon ersetzt keine Begegnung, Mails und Video auch nicht. Selten wie in diesen Tagen spüre ich, wie gerne ich Pfarrer bin! Und was mir eigentlich wirklich wichtig ist in meinem Berufsleben.

Während ich das schreibe, befinden wir uns im zweiten „Lockdown“ bis zum 10.1.21. Ob wir in die Verlängerung müssen? Es ist zu befürchten und mit Grausen denke ich an die fünf Konfirmationen in diesem Jahr unter Corona-Bedingungen. Aber uns wird etwas einfallen! Sie werden schön werden, unvergeßlich sind sie sowieso schon jetzt! Mir tun nur „meine Konfis“ leid, ich habe ihnen etwas anderes, Leichteres gewünscht, hatte Ausflüge geplant, Aktionen im Kopf gehabt! Da lernt man dann auch als Pfarrer nochmal auf eine ganz besondere Weise Gottvertrauen: Wird schon! Kriegen wir hin! Irgendwie! Wunder geschehen!

Was ich mir wünsche? Mehr Zusammenhalt. Geprobt haben wir den, als unsere Gemeinde mit der „Gaststätte“ gegenüber und der Pizzeria um die Ecke in zwei WDR5 Beiträgen unsere Situation darstellen konnten. Da wurde es nochmal deutlich: Wir müssen zusammenstehen, hier oben und überall. Wir dürfen uns weder von einem Virus noch von der Angst oder irgendwelchen selbsternannten „Querdenkern“ auseinanderdividieren lassen! Vielleicht haben wir es tatsächlich mit etwas „Diabolischem“ zu tun. Umgangssprachlich meint das Wort ja so etwas wie „teuflisch“, wortwörtlich genommen: „durcheinandergeworfen“. Und das macht das Virus ja mit uns! Was sich meine? Wir sind es doch gewohnt, bei Gefahr und Not zusammenzurücken und unsere Sprache verrät das auch: siehe oben. Wenn ich unterwegs eine Panne habe, rufe ich nach dem ADAC meine Frau an. Warum eigentlich? Sie kann mir gar nicht helfen und ich beunruhige sie nur. Aber sie soll es wissen! Es ähnelt dem Verhalten von Kindern: Man schlägt sich das Knie auf und läuft zur nächsten Bezugsperson, die irgendwie Schutz und Geborgenheit vermittelt; meistens ist das die Mama, selbst wenn die Frau neben dieser Ärztin ist. Im Krieg und bei Katastrophen wird viel davon gesprochen, daß man als Volk, als Gesellschaft „zusammenstehen“ müsse! Und genau das unterläuft das Virus auf perfide Weise: Zusammenstehen bedeutet Abstand halten! Bedeutet, immer wieder nachzudenken (und eben nicht spontan zu handeln, wie wir es als Kinder getan haben) und dann erst das Angemessene zu tun. Und immer im Kopf zu haben: Gerade die uns Nahestehenden können eine Gefahr für uns sein, gerade wir für sie! Insofern zwingt uns das Virus zu dem, was uns als Menschen herausfordert: Zu denken! Mehr als sonst! Eine unserer „Siegesprämien“ über das Virus könnte eine Steigerung des vernünftigen Verhaltens von uns sein. Wäre ja an sich auch nicht schlecht.

Und tatsächlich: Gottvertrauen ist nötiger denn je. Denn „unser Wissen und Verstand sind mit Finsternis umhüllet“, wie es in einem alten Lied (Liebste Jesu, wir sin hier, Eg 161) heißt. Unsere Kräfte und Möglichkeiten sind begrenzt, unser Leben ist endlich. Mich lehrt das Virus neben einem bewußten, von der Vernunft geprägten Verhalten vor allem Demut und Bescheidenheit, beides keine sehr modernen Tugenden. Doch ganz ehrlich: Wirkliche Angst oder gar Panik habe ich nicht. Ich tue, was ich kann, um andere und mich zu schützen, alles weitere liegt in der Hand Gottes. Das schreibt sich leicht dahin, wenn es mich schwer treffen sollte, wird es dennoch nicht falsch sein. Dann hoffe ich, mit Gottes Hilfe bestehen zu können. Und auch zu überleben. Eigenartig, ich staune manchmal über mich selbst: ich empfinde mehr Verantwortungbewußtsein als Angst. Vielleicht ist es das, warum man früher davon sprach, daß Gottvertrauen (=Glaube) ein „Geschenk“ eine „Gabe“ sei. Ich bin unendlich dankbar dafür, ich wünsche es uns allen so sehr.

Wie das Neue Jahr wird? Ich weiß es nicht, erhoffe so vieles. Und bin gespannt, wie wir in einem Jahr, in zwei Jahren über diese Zeit denken werden.

Ein nachdenklicher, (wegen der vielen sinnvollen Einschränkungen) etwas trauriger, aber innerlich gewisser und ruhiger Stadtrandpfarrer…               

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