„Bleib ruhig!“ So sage ich es mir selbst das eine oder andere Mal, wenn ich merke, dass mein Adrenalinspiegel wieder steigt.
Ruhe bewahren, wenn es stressig wird, sich nicht dem Zorn hingeben, lieber noch mal nachdenken, das sind gute Vorsätze, aber nicht immer so leicht umzusetzen.
Dabei weiß ich doch, dass der Zorn verraucht, wenn ich länger auf eine Sache zurückblicke. Manchmal ist die Ursache meines Zornes mit etwas mehr Zeit dazwischen gar nicht mehr so schlimm. Oder wenn ich innehalten, nachdenke und vielleicht sogar versuche, die Sache aus der Perspektive des anderen zu sehen, verraucht mein Zorn. Manchmal.
Ja, Zorn ist kein guter Ratgeber weder am Tag noch am Abend.
Und nun dieser Monatsspruch: „Lass die Sonne nicht untergehen über deinen Zorn!“
Zornig ins Bett gehen ist nicht gut. Wenn man sich innerhalb der Familie gestritten hat, ist es für den erholsamen und gesunden Schlaf besser sich vorher auszusprechen. Aber wie es mit den anderen, die meinen Zorn erregt haben?
Wenn die Sonne unterging, konnte man zur Zeit des Neuen Testaments nicht mehr arbeiten. Es gab kein künstliches Licht, das es erlaubt hätte, weiterzuarbeiten. Und die Straßen waren nicht beleuchtet. So konnte man keinen längeren Weg gehen, ohne zu stolpern oder hinzufallen. Deshalb gab es auch kein Gespräch mehr, wenn sich zwei Leute gestritten hatten. Keine Versöhnung war mehr möglich, denn die Sonne war schon untergegangen.
Also besser vorher noch einmal miteinander reden.
Aber halt, ist dann schon genügend Zeit vergangen, dass mein Zorn auch verraucht ist oder ich sogar Verständnis entwickelt habe?
Ich schaue noch einmal auf den Vers: „Zürnet und sündiget nicht, lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen, und gebt nicht Raum dem Teufel.“
Bei allem Rekapitulieren des Tages vor dem Einschlafen, wenn ich über die Ereignisse des Tages nachdenke, soll mein Groll schwinden und sich nicht noch anstacheln lassen auf Vergeltung zu drängen. Über Rache und Vergeltung nachzudenken im Dunkel der Nacht, das wäre dem Teufel noch Raum geben. Darum sagt dieser Vers uns heute: Bist du auf jemanden wütend, dann solltest du dich mit ihm/ihr endlich versöhnen!
Dieses Wort ist ein mahnendes Wort an jeden einzelnen unter uns im privaten und beruflichen Umgang miteinander.
Aber ich meine, dieses Wort ist auch richtungsweisend für unseren Staat und für jedes Staatswesen. Hinsichtlich der Coronapandemie hat der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn mal gesagt: „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hätten Politiker „mit so vielen Unwägbarkeiten so tiefgehende Entscheidungen treffen müssen“.
Und bei all dem Zorn und Misstrauen, das immer mehr aufkeimt, muss ich ihm recht geben. Wir werden und müssen jetzt schon einander viel verzeihen in und nach dieser Coronazeit, denn bei allem Handeln und vernünftigem Entscheiden verletzen wir den einen oder anderen, weil wir ihn oder sie z.B. nicht in einen Gottesdienst oder zu einer Gruppe hineinließen.
Werden wir es können: einander wirklich zu verzeihen? Nur dann, wenn weiterhin für Verständnis geworben, Geduld geübt und Zuversicht genährt wird, und zwar sowohl im öffentlichen, beruflichen als auch privaten Bereich.
Gott helfe uns dabei.
Pfarrerin Christiane Fiebig-Mertin