Zeitenfülle: mehr als Zeitenwende und Epochenbruch

Es brauchte wohl diese Deklaration, um Weihnachten verständlich zu machen. Es brauchte diesen Hinweis vor der aufgestellten Krippe, um die Szene in die richtigen Worte zu fassen: „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau“. So viel italienisch konnte ich zum Glück, um den Satz aus dem Galaterbrief zu verstehen. Und für einen Moment dachte ich in jener stattlichen Kirche im ligurischen Imperia, dass das Brief-Zitat an jeder Krippe angebracht werden müsste.

Warum? Weniger aus erzieherischen Gründen. Da reicht mir schon der im Übermaß vertäfelte Wegesrand, angefangen vom befahrbaren Seitenstreifen bis hin zum begehbaren Erlebnispfad. Nein, die schlanke Mitteilung des Apostels Paulus sähe ich darum gern an jeder Krippe, weil sie es nicht bei der Gemütlichkeit belassen will. Die Geburt zu Bethlehem war alles andere als eine heimelige Veranstaltung und zur Nachahmung nicht empfohlen. So nackt wie das Jesuskind war das Elend, das diese Niederkunft zur Zeit des Kaisers Augustus ausmachte. Und darum muss man erst recht an jede Krippe dranschreiben, wer hier das Heft des Handelns in der Hand hält. Nämlich Gott. Er tut sich das alles selber an, als er seinen Sohn sandte, „geboren von einer Frau“, nato da donna. 

Das war aber ein weltenwendendes Geschehen. Und eine Ahnung davon bekommt auch der, der den Erlöser für einen Fleckentferner und die Hirten auf dem Felde für eine Fußballmannschaft halten sollte: die Jahre werden neu gezählt. Wir leben im Jahr 2022 nach Christi Geburt. Mit Bethlehem wird anders addiert. Mit dem Krippenkind wird anders gerechnet. Der Apostel Paulus schreibt es seinen Galatern so: „Als aber die Zeit erfüllt war“.

Manche Ereignisse in der Geschichte haben ebenfalls das Zeug zur Zäsur. Als ich vor Jahren in jener italienischen Kirche stand, dachte ich an Nine-Eleven. Am 11. September 2001 hatten Terroristen mehrere wichtige Gebäude in den USA attackiert. Zwei der Flugzeuge steuerten sie in das New Yorker World Trade Center. Die Bilder, die damals um die Welt gingen, werden wohl nie vergessen werden. Nur einen Tag später hieß es: nichts ist mehr so wie es war.

Nun hat der Bundeskanzler eine Zeitenwende ausgerufen. Die Gründe dafür sind allerdings andere als damals in den USA. Der verbrecherische Angriffskrieg Russlands in der Ukraine hat die Sicherheit, in der sich hierzulande viele gewogen haben, zu einer fraglichen Sicherheit gemacht. Und die politischen Herausforderungen brachten neue Orientierungen mit sich. Überzeugungen, lautstark per Megaphon oder am Mikrofon vorgetragen, hatten angesichts der brutalen Realität auf einmal eine kurze Halbwertzeit.

Und was dem Bundeskanzler die Zeitenwende ist, nannte der Bundespräsident einen Epochenbruch. Vor einem Monat stimmte er in einer Rede an die Nation auf härtere Jahre ein und appellierte an den „Widerstandsgeist“ der Deutschen. Neben dem Krieg in der Ukraine waren auch andere teils globale Krisen ein Thema in Steinmeiers Rede – zum Beispiel die Spannungen mit China, der Klimawandel und Hungerkrisen.

Nichts ist mehr so wie es war. Stimmt das denn? Ist wirklich nichts mehr so wie es war? Ja, einiges ist anders geworden, vielleicht sogar viel. Früher konnte man vielleicht noch sagen, mit welcher Krise man es gerade zu tun hatte. Heute verliert man ein bisschen den Überblick. Da sind ja auch noch Inflation und Corona, und auch eine neue Migrationskrise ist zurück. Manche reden darum von einer Polykrise, andere von einer Stapelkrise.

Für mich überbietet allerdings die Zeitenfülle zu Bethlehem jede Zeitenwende und jeden Epochenbruch. Ein wehrloses Kind, ein schreiendes Bündel Säugling, abgelegt in einer elenden Futterkrippe, dreht die Geschichte. Und nicht der Kaiser im fernen Rom. In ein Vorher und in ein Nachher. In die Jahre vor Christi Geburt und in die nach Christi Geburt. Gott wird Mensch. Das hat er alles uns getan, sein groß Lieb zu zeigen an.  So heißt es in einem Weihnachtschoral. Sein groß Lieb  trägt durchs Leben und nichts und niemand kann uns von ihr scheiden. Das nun steht auf einem anderen Blatt. Paulus schrieb das nicht an seine Galater, sondern an die Gemeinde in Rom. Aber auch dieser Hinweis würde jede aufgestellte Krippe zieren.

Pfarrer Werner Beuschel

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