Wann hatte ich das zuletzt gesehen? Hatte ich die Szene überhaupt so schon einmal gesehen? Eine Viertelstunde vor Gottesdienstbeginn saßen die beiden nebeneinander in der Kirchenbank: nicht unbedingt regelmäßige Besucher der Christuskirche, aber in der Gemeinde sich heimisch fühlend. An diesem Sonntag hatten sie sich wie andere Konfirmandeneltern auf den Weg zum Gotteshaus am Kapuzinerplatz gemacht.
Die Haltung dieser beiden hinderte mich, unbefangen auf sie zuzugehen mit einem Gruß auf den Lippen. Regelrecht in sich zusammengesunken saßen sie da, den Rücken gekrümmt, den Kopf nach unten genommen. Ein Bild der inneren Sammlung, wie sie nicht intensiver sein kann. Wortwörtlich vertieft wirkten die beiden. Vertieft ins Gebet? Als Vorbereitung auf einen Gottesdienst hätte es gepasst. Gängiger Praxis entsprach es nicht. Selbst den Moment der inneren Sammlung, ein im Stehen gesprochenes kurzes
Gebet, bevor man sich setzt, nehmen sich immer weniger im Kirchenraum. Ganz anders diese beiden ein paar Bankreihen vor mir. Kein Wunder also, dass ich unwillkürlich stoppte auf dem Weg zu ihnen.
Doch, so eine Szene hatte ich schon mal gesehen. So etwas Ähnliches zumindest. Jetzt fiel es mir wieder ein. Es muss im sechsten oder siebten Schuljahr gewesen sein. Ich schrieb eine Klassenarbeit im Deutschunterricht. Es war eine Bildbeschreibung. Eine ganze Schulstunde vertiefte ich mich in ein Gemälde von Wilhelm Leibl. Es heißt „Drei Frauen in der Kirche“. Und obwohl es sich um drei Frauen und nicht um ein Ehepaar handelt, obwohl sie von der Seite gezeigt werden und nicht von vorn hinter
Bänken zu sehen sind, so schien mir die Stimmung der auf einem Kirchenmöbel sitzenden Personen die gleiche zu sein. Andacht pur.
Das alles fiel mir drei Monate nach dieser Szene in der Christuskirche deshalb wieder ein, weil ich Leibls Bild erneut vor mir hatte. Und zwar nicht im Kunstpostkartenformat, sondern in voller Größe. Eine Kirchenerkundung in Bayern hatte meine Frau und mich nach Berbling geführt, ein Dorf in der Nähe von Rosenheim. Dort war der Künstler mit Farbe und Malgrund über Monate hinweg zu Werke gegangen. Das weltberühmte Original hängt in der Hamburger Kunsthalle, hier in Berbling ist hinter Glas eine Kopie zu sehen. Die geschnitzte Wange ist noch dieselbe wie am heutigen Gestühl. Kurze Infotexte unter der Reproduktion erzählen die Geschichte und die Geschichten zum Bild. Die drei Frauen, die Modell saßen, sind namentlich bekannt. Die überexakte Malerei beeindruckte mich erneut, obwohl sie, wie ich jetzt lernte, im späten 19. Jahrhundert nicht mehr der Mode in der Bildenden Kunst entsprach.
Gänzlich aus der Zeit gefallen scheint heute die Szene als solche zu sein. Für viele sind ins Gebet und in die Lektüre von Bibel und Gesangbuch vertiefte Nachbarinnen allenfalls Folklore, so wie die von Leibl mit lupenreiner Präzision gemalten Gewänder der drei Frauen. Allerdings schienen die beiden, die ich vor
einem Vierteljahr in der Christuskirche sitzen sah, das anders zu sehen.
Schließlich bin ich doch zu den beiden hingegangen. Und ich hatte die Perspektive, die auch Leibl auf seine Modelle hatte, nämlich den Seitenblick. Die nach unten geneigten Köpfe waren wirklich sehr konzentriert. Die Blicke richteten sich aufs Display der Smartphones. „Muss nur noch kurz die Welt retten“ und „148 Mails checken, wer weiß, was mir dann noch passiert“. Der Hit von Tim Bendzko hätte die Begleitmusik der Szene sein können.
Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott, heißt es in Psalm 42. Vielleicht kann auch die Nachrichtenlage im Großen wie im Kleinen zu diesem Durst führen. Vielleicht braucht es ja heute den Check von Kurznachrichten, um neben vielem „Ja“ und hoffentlich wenigem „Ach“ im Gebet doch
immerhin „Ach ja“ zu sagen. Die Welt muss dabei nicht gerettet werden. Die ist schon längst gerettet. Denn auch mitten im Hochsommer gilt die Wahrheit des Weihnachtschorals: „Christ, der Retter, ist da“.
Pfarrer Werner Beuschel