Das Gladbacher Volkskaffeehaus von 1886

Schon der Reformator Martin Luther hatte in seinen Schriften und Predigten eindringlich vor dem „Saufteufel“ gewarnt, obwohl er ein gut gebrautes Bier oder einen Becher Wein zu schätzen wusste.

Im 19. Jahrhundert gehörte die neu entstehende Arbeiterklasse zu den Verlierern des Fabriksystems. Nicht selten führte die Not und Verzweiflung der Fabrikarbeiter zu einem „Elendsalkoholismus“, der vor allem die christlichen Kirchen zu Abhilfemaßnahmen veranlasste. In seiner Gladbacher Gemeinde hatte Pfarrer Otto Zillessen (1811-1885) schon frühzeitig einen sogenannten „Mäßigkeitsverein“ gegründet, der besonders vor dem Konsum von Branntwein warnte. In der Revolutionszeit um 1848 trat das Thema des Alkoholmissbrauchs vorübergehend in den Hintergrund.

In den 1880er Jahren wurden vom Kanzler Bismarck Sozialreformen eingeleitet, die die Lage der Arbeiter verbessern sollten. Bürgerliche Vereine, die von Fabrikanten, Politikern und hohen Beamten gegründet wurden, versuchten, die neue Sozialpolitik zu unterstützen. In Kassel war am 29. März 1883 der „Deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke“ unter Mitwirkung von Pfarrer Otto Zillessen gegründet worden. Kurz darauf entstand ein Gladbacher Ortsverein, der im evangelischen Vereinshaus tagte. Vorsitzender des neuen Ortsvereins wurde der evangelische Fabrikant Matthias Christian Busch, der am 27. November 1883 im Gladbacher „Wissenschaftlichen Verein“ über das Problem des exzessiven Alkoholkonsums referierte. Die anwesenden Fabrikanten und Honoratioren ließen sich schnell überzeugen. Durch Alkohol verursachte Betriebsunfälle, gewaltsame Konflikte zwischen Betriebsangehörigen, Ausfalltage am „Blauen Montag“ und der Schutz der Kinder, Jugendlichen und Familien vor dem Alkoholmissbrauch waren triftige Gründe, Maßnahmen zur „sittlichen Hebung des Arbeiterstandes“ zu ergreifen.

Pfarrer Zillessen und die Vereinsmitglieder begannen Geld für die Errichtung eines Volkskaffeehauses zu sammeln, in dem nichtalkoholische Getränke für die ärmeren Schichten angeboten werden sollten. Pfarrer Ludwig Weber führte die Arbeit von Pfarrer Zillessen im „Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke“ auf Reichs- und Ortsebene nach dessen Tod 1885 fort. Die gemeinnützige „Gladbacher Aktienbaugesellschaft“, die überwiegend durch protestantische Unternehmer geführt wurde und seit 1869 Häuser und Wohnungen für Arbeiter errichtet hatte, erbaute 1886 auf einem freien Platz am Anfang der Lüpertzenderstraße (Ecke heutige Rathenaustr.) ein mehrstöckiges „Volkskaffeehaus“, zu dem eine Speiseküche gehörte.

In vielen großen Städten in Deutschland waren ab 1880 Volkskaffeehäuser und Speiseküchen für die ärmeren Bevölkerungsschichten entstanden. Etliche Häuser mussten schon nach kurzer Zeit wegen fehlender Resonanz schließen. Viele wurden durch das Image einer Armenfürsorgemaßnahme von einem Besuch der Einrichtungen abgeschreckt. Einige Häuser überlebten, indem sie  Bier und Wein in geringem Maße zu den Speisen anboten. Mitunter erfolgten dann allerdings mancherorts Proteste der Gastwirte.  

Neben dem Kampf gegen den Alkoholmissbrauch war ein politisches Motiv der Kaffeehausinitiatoren der Kampf gegen den zunehmenden Einfluss der Sozialdemokratie auf die Arbeiterschaft. Die Sozialistengesetze hatten von 1878 bis 1890 die Arbeit der Sozialdemokraten erheblich behindert. Arbeiter, die sich im Volkskaffeehaus trafen, unterwarfen sich einer sozialen Kontrolle. Gegen den Versuch einer Beschneidung der persönlichen Freiheit setzten sich die sozialdemokratischen Arbeiter, die politische und wirtschaftliche Rechte einforderten, energisch zur Wehr. Der Vorsitzende des Gladbacher Arbeitervereins Franzen forderte am 14. Mai 1888 in einer Versammlung in M.Gladbach vor 250 Teilnehmern von den Fabrikherren Mindestlöhne und Begrenzungen der Arbeitszeiten statt Wohltätigkeitsangebote wie Kaffeehäuser und Suppenküchen.

Trotz der ablehnenden Haltung der sozialdemokratischen Arbeiter war das Gladbacher Volkskaffee- und Speisehaus, das wohl hohe Qualität der Speisen und Getränke zu günstigen Preisen bei angenehmem Ambiente bot, offenbar so gut von der Stadtbevölkerung angenommen worden, dass es noch bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bestehen konnte. Am 8. Januar 1901 berichtete Pfarrer Ludwig Weber bei einem Vortrag im Wissenschaftlichen Verein u.a. über die Würdigung des Gladbacher Volkskaffeehauses bei einer Fotopräsentation auf der Pariser Weltausstellung 1900. Im Laufe des Jahres 1901 wurden das Volkskaffee und das Speisehaus durch eine öffentliche Volksbibliothek mit 8.000 Büchern und eine große Lesehalle in den oberen Etagen erweitert. Das Volkskaffeehaus existiert schon lange nicht mehr, das Problem des Alkoholmissbrauchs und seiner Folgen ist bis in die Gegenwart ungelöst geblieben.    

Lothar Beckers

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